Donnerstag, 31. Januar 2008

Lektion 2

Meteorologie
Ja, während in der Schweiz Schnee liegt und es so richtig schön kalt ist herrscht hier Sommer. Theoretisch zumindest. Praktisch liegen die Temperaturen nämlich zur Zeit meistens näher bei 10 als bei 20 Grad, vom andauernden Regen ganz zu schweigen. Der letzte schöne, sommerlich warme Tag war am 18. Januar - zwei Wochen her. Da würde ich fast so weit gehen zu schwören mich nie, nie mehr über den Schweizer "Sommer" zu beklagen... aber das wäre dann doch übertrieben.
Ob nun "El Niño" oder "La Niña" oder ganz einfach Petrus an der derzeitigen Wettermisere Schuld sind, darüber herrscht Uneinigkeit (und ich als meteorologisches Unschuldskind will mich auch zu keiner Aussage hinreissen lassen). Sicher ist aber, dass der Regen nicht spurlos am Land vorbeigegangen ist. Vor allem in den Tiefland Departamenten Beni und Santa Cruz ist es zu zum Teil schweren Überschwemmungen durch über die Ufer getretene Flüsse gekommen; über 120'000 Menschen sind obdachlos oder können nicht in ihre Häuser zurückkehren, mehr als 45 Personen sollen bereits ums Leben gekommen sein. Dazu kommen die landwirtschaftlichen Schäden, die schon über einer halber Milliarde US-$ liegen. Da die Strasse zwischen Santa Cruz und La Paz durch Erdrutsche so gut wie unpassierbar gemacht wurde, werden die Schäden nicht nur durch die simple Zerstörung der Ernten generiert, sondern auch durch die Unmöglichkeit die Produkte, welche in hunderten Camions auf ihre Exportation warten, ausser Landes zu bringen.
Auch in anderen Teilen des Landes bekommt man das zu spüren: die Erhöhung der Lebensmittelpreise rein auf die Inflation abzuschieben klappt mittlerweile nicht mehr.

[Quelle: http://www.ansa.it/ansalatina/notizie/rubriche/amlat/20080131190434585710.html ]

Kultur
Ich hoffe ihr knabbert alle brav Fasnachtschüechli, denn dieses Wochenende ist Karneval angesagt (nicht gewusst?). Der hat zumindest hier in Sucre schon vor ca. drei Wochen angefangen, mit der alten Tradition, der gegenüber die meisten wohl eine Art Hass-Liebe empfinden. "Mojar" (nassmachen), mit Wasserballons und Wasserpistolen, aus fahrenden Autos, Bussen, aus Hausfenstern oder einfach so von Angesicht zu Angesicht. Wer? Alle von 5 bis 20. Wen? Ausnahmslos alle, ohne jegliche Anzeichen von Rücksichtsnahme. Und wenn du einen Wasserballon an deinen Rücken kriegst bist du nass, so richtig nass.
Zwei Dingen ist es zu verdanken, dass das nicht so oft vorkommt: einerseits war es wegen dem dauernden Regen den meisten Kindern wohl zu doof die eh schon +/- nassen Leute nass zu machen, und zweitens haben die meisten eine eher miese Treffsicherheit.
Das Karnevalswochenende (von Freitag Mittag bis Dienstag Abend ist hier Feiertag) werde ich am weltberühmten, UNESCO-gekrönten Karneval von Oruro verbringen [Bericht folgt].

(Die Karnevalsspezialität von Sucre sind übrigens Konfites: Mandeln, Erdnüsse oder Kokosstücke umhüllt von einer dicken Schicht aus Zucker und Fett)

Wirtschaft
Von was lebt den Sucre eigentlich? Eine gute Frage... Da ist einerseits "La U", die mächtige, alles beherrschende Universität. Andererseits Fancesa, das grösste Zementwerk Boliviens. Ausserdem haben wir Salvietti, eine Süssgetränkfabrik und die diversen Schokoladenhersteller.
Die Universität lässt neue Gebäude bauen, die Studenten müssen wohnen, essen, schlafen, shoppen und werden somit zum Herz, zum Lebensmotor der Stadt. Nie wird das deutlicher bewusst als jetzt, während der Semesterferien, wo nicht nur Busse und Strassen leerer sind als sonst, sondern auch diverse Geschäfte gleich ganz geschlossen bleiben.
Dazu kommen die Arbeitsstellen in Verwaltung, Sicherheit, Transport etc. und ein zaghaft wachsender Tourismus.
Aber eine richtige Wirtschaftsgrundlage fehlt, was wohl der Grund ist, weshalb Sucre nicht so richtig wächst und die Stadt im nationalen Vergleich immer weiter hinten liegt als beispielsweise La Paz, Cochabamba und die Boomtown Santa Cruz. Und was wohl mit ein Grund ist, wieso die Sucrenser im vergangenen Jahr so verbissen dafür kämpften den Regierungssitz nach Sucre zu holen - um endlich einen Schritt nach vorne zu machen.

Orthografie
Ja, das mit der Rechtsschreibung ist so eine Sache. Vor allem wenn zwei Konsonanten (fast) gleich ausgesprochen werden: das kleine und das grosse B, oder "v" und "b".
Der Klassiker ist wohl die oft an Hauswänden angebrachte Schrift "No votar basura" (Nicht den Müll wählen) anstelle von "No botar basura" (Keinen Müll hinwerfen). Das geht bis zu einer äusserst hübschen, wahrscheinlich von der Gemeindeverwaltung in Auftrag gegebenen, Wandmalerei an der Plaza in Yotala...
Die "Acientos" (richtig: asientos) welche vor dem Karneval zum Verkauf standen, kosteten zwar 100 Bs. (cien=hundert), boten aber nur Platz für eine Person.

"LOTE EИ VEИTA" (Liegenschaft zum Verkauf) eines meiner Lieblingsgraffitis an denen ich Tag für Tag vorbei fahre. Hier lag die Krux für einmal nicht bei b und v, sondern bei der Ausrichtung des Ns.

Kann man den Menschen einen Vorwurf machen? Kaum. Wenn schon ein Schuldiger gefunden werden muss, dann das bolivianische Schulsystem, bei dem wohl so mancher nach 12 Jahren Schule noch immer nicht sicher ist ob es jetzt "baca" oder "vaca" (Kuh) heisst. Wenn er denn die gesamte Schulzeit abgesessen hat, und nicht schon früher durch die Lebensumstände gezwungen wurde auf der Strasse Geld zur Unterstützung seiner Familie zu verdienen. Kinderarbeit ist in Bolivien keineswegs verboten, im Gegenteil, sie wird durch Stundenpläne (entweder nachmittags oder morgens Unterricht) begünstigt und von der Bevölkerung akzeptiert.

3 Kommentare:

federico hat gesagt…

Wie immer ein Hochgenuss, deine Ausführungen für Insider. Wie schon oft gesagt, schade, dass nur so wenige Leser in diesen Genuss kommen.

federico hat gesagt…
Dieser Kommentar wurde vom Autor entfernt.
Anonym hat gesagt…

Ich wollte Dir schon lange sagen,dass Dein Blog von sehr vielen Leuten interessiert gelesen wird.Leider haben sie nicht die Zeit oder die Musse zu antworten.Genau so wie ich.Gruss Mam