Sonntag, 23. März 2008

Vida cotidiana (Teil VI)


Namensgebung
Was in den Orthografieproblemen bei alltäglichen Wörtern schon deutlich wird, ("Feliz Nabidad", "Se cargan Vaterias", "Se reciven pensionarios") zeigt sich auch bei der Namensgebung. In Häusern wo Bücher und Bildung fehlen, hat der Fernseher längst seinen festen Platz eingenommen. Und so werden beispielsweise die Kinder in Villa Armonía mit Namen von Schauspielern oder aus den beliebten Telenovelas bedacht. Wenn dann weder die Eltern noch der zuständige Notar in Fremdsprachen bewandert sind, ist das Resultat öfters ziemlich erheiternd. Hier einige Beispiele, von Kindern die ich in der Guardería oder im Comedor kennengelernt habe.
Da sind zum einen die "deutschen" Namen, auf die im gesamten deutschsprachigen Raum wohl schon lange niemand mehr getauft wird. Beymar, Elmer, Wilber, Edvin, Elgar, Oscar, etc.
Und dann natürlich die unvermeidlichen - sagen wir Entlehnungen aus dem - englischen: Jhosselin (ich kenne schon drei), Jhanet, Bady, Jhoni, Rous, Rosemery, etc.

Cabildo
Für 2009 ist die 200-Jahr-feier der bolivianischen Unabhängigkeit von Spanien angesagt. Dennoch hat sich in Bolivien ein Instrument aus der spanischen Kolonialzeit bewahrt: der "Cabildo" (der Diccionnaire meint "Stadtrat").
Die Räte (fragt mich bitte nicht wie die gewählt werden) aus verschiedenen zivilen Organisationen - da hat natürlich hier in Sucre die Universität ihre Finger ganz dick drin - können so Entscheide fällen, die zwar nicht "legal" im Sinne des Gesetzes sind, jedoch als "legitim" gelten, da damit dem Willen der gesamten Bevölkerung entsprochen werde.
Wenn also die Regierung in La Paz mal wieder nicht auf uns Sucrenser hören will [;)], was bleibt uns anderes übrig? Am 6. März (ja, natürlich unter der Woche, bekamen aber auch alle - ausser den Taxifahrern - frei) war also grosse Versammlung auf der Plaza angesagt. Von den gut 250'000 Einwohnern Sucres beteiligten sich allerdings gerade mal 10'000 Seelen am Cabildo. Traktandum war die Wahl eines Interimspräfekten, da der derzeitige MAS-Präfekt bei den Unruhen im November quasi davongejagt worden war und jegliche Unterstützung durch die Bevölkerung verloren hat.
Und dann die grosse Überraschung: zum ersten Mal in der Geschichte Chuquisacas wurde eine Frau ins höchste Amt des Departaments gewählt: Doña Sabina Cuéllar, Campesina (Kleinbäuerin vom Land), Quechua-sprachig und erst noch Anhängerin des MAS (Regierungspartei "Movimiento al Socialismo") - wenn sie auch von ihrer Partei ausgeschlossen wurde, nachdem sie sich im Kampf für die "Capitalía" auf die Seite Sucres/Chuquisacas gestellt hatte.
Klar war die Wahl in höchstem Masse strategisch: indem eine einfache Frau vom Land gewählt wurde, nahm man Evo Morales jeglichen Wind aus den Segeln um gegen die "Oligarchie" (sein Feindbild Nr.1) Sucres zu wettern.
Die Regierung war natürlich trotzdem nicht einverstanden mit dem neuesten Beweis aufmupfigen Verhaltens der Sucrenser.
Die Justizministerin meinte: “Lo acontecido este jueves en Sucre fue una dictadura cívica y que implica la comisión del delito de usurpación de la autoridad pública establecida” (Das am Donnerstag in Sucre vorgefallene war eine "zivile Diktatur" und beinhaltet das Begehen des Delikts des Missbrauchs der öffentlichen Autorität)
Und, wie könnte es anders sein ein böser Kommentar über Sabina: “se vendió a la oligarquía de Sucre, traicionó sus principios, a sus bases del área rural y a la democracia”. (Sie verkaufte sich an die Oligarchie Sucres, betrog ihre Prinzipien, ihre ländlichen Ursprünge und die Demokratie".
Einige Tage später dann die Nachricht aus La Paz: die Regierung anerkennt die Präfektin nicht und es wird auch keinerlei finanzielle Mittel für das Departement Chuquisaca mehr geben.

Semana Santa
Ja, es gibt sie noch: die kommerziell (fast gänzlich) unverdorbenen Feiern zu Tod&Auferstehung Jesus'. Wer in Sucre Ostereier oder Schokohasen haben will, muss suchen. Allerdings nicht das Nestchen, sondern die Verkaufsstände die solcherlei Sachen (importiert aus Argentinien, oder von den geschäftstüchtigen lokalen Schokoladenfabrikanten hergestellt) anbieten. Das wohl einzige Ostereier-Suchen der Stadt wurde vom Deutsch-Bolivianischen Kulturzentrum veranstaltet.
Das einzige was auf dem Markt (abgesehen von den vielen Menschen) auf Ostern hindeutete, waren die in rauen Mengen angebotenen Maiskolben und Kürbisse, welche zur Zubereitung des traditionellen Karfreitaggerichts "Locro" benötigt werden.
Am Freitag wurden also nach dem frühmorgendlichen Aufstieg auf den Hügel, beladen mit Steinen (um den Weg Christi, beladen mit Kreuz, zu symbolisieren), sämtliche Register der bolivianisch-vegetarianischen Kochkunst gezogen.
Der Samstag war ein normaler Samstag, so wie auch der Montag ein normaler Montag sein wird. Am Sonntag wäre eigentlich Lamm angesagt gewesen, was aber durch ein grosses Grillieren ersetzt wurde, zum Abschied meiner Gastschwester, die am Dienstag für zunächst zwei Jahre nach Argentinien geht.

Ñuqa qhishwata yachakushani - Ich lerne Quechua
Ja, endlich habe ich mit meinen Quechua-Stunden begonnen. Da ich mir anmasse Spanisch schon mehr oder weniger gut zu beherrschen, wurde es Zeit eine neue Herausforderung in Angriff zu nehmen. Und herausfordernd ist es wirklich: mit keiner anderen Sprache verwandt, stellt die Sprache des Inkareichs und der aktuellen bolivianischen Landbevölkerung gänzlich neue Anforderungen an Grammatikverständniss und Aussprache. Aber vielleicht ist es gerade das, was den Reiz ausmacht. Ausserdem möchte ich verstehen was im Radio erzählt wird, worüber die Leute im Bus sich unterhalten und vor allem was die Mütter, die in meinem Projekt vorbeikommen und mich mit einem Wortschwall überhäufen, eigentlich wollen (oder ihnen zumindest sagen können, dass ich nichts verstehe). Es gibt sie tatsächlich, die Leute die kaum bis gar nicht Spanisch sprechen. Auf dem Land klar, aber auch hier, an den Rändern Sucres, sind noch längst nicht alle zweisprachig. Wie auch, wenn sie oft nur einige wenige Jahre die Schule besucht haben und zu Hause ausschliesslich Quechua gesprochen wurde/wird?
So weit entfernt von allem was man kennt ist Quechua dann überraschenderweise manchmal doch gar nicht: das Verb "sprechen" beispielsweise ist "parlay" (vgl. frz. "parler", it. "parlare"). Sonntag ist Intichaw (Tag der Sonne), Montag Killachaw (Tag des Mondes) und Donnerstag Illapachaw (Tag des Donners) - wenn diese Namen auch im alltäglichen Gebrauch längst durch die spanischen Tagesbezeichnung ersetzt worden sind.

In diesem Sinne:
Tinkunakama

Bis zum nächsten Mal!