Sonntag, 2. Dezember 2007

Ciudad blanca negra

Es gibt Dinge, die muss man einfach chronologisch erzählen, um wenigstens einen Hauch von Ordnung in sich überstürzende Ereignisse zu bringen zu versuchen. Hier also mein Bericht Über die schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Studenten letzte Woche - und deren Folgen und Nachwehen.

Freitag, 23. November: Ein strahlend schöner Morgen und alles friedlich in meinem neuen Projekt in Villa Armonia. Doch der Frieden täuschte, und in gleichem Masse wie Wolken den Himmel bedeckten um sich schliesslich tiefschwarz zu einem Gewitter zusammen zu brauen, eskalierte im Zentrum Sucres die Situation.

Bereits am Vortag waren Gerüchte über die Ankunft von hordenweise Bauern aus La Paz, die Schliessung des Marktes und die Kappung der Wasserversorgung zirkuliert. Alles blieb aber zunächst friedlich, und nun also der Sturm nach der Ruhe. Knapp schaffte ich es nach Hause zu kommen: wegen einer sich formierenden Demonstration konnte mein Bus nicht seine übliche Route fahren, ich hatte folglich keine Gelegenheit in meinen Anschluss-Micro umzusteigen und fuhr Richtung Zentrum. Es gelang mir dann die Linie zu erwischen die mich nach Hause bringen sollte, zuerst aber hoch Richtung Friedhof fuhr. An den Strassenenden links und rechts brennende Reifen und schliesslich eine Ladung Tränengas (eklig das Zeug). Der Fahrer sah ein, dass es so nicht mehr ging und kehrte um. Gerade noch schafften wir es raus aus dem Zeug, denn schon waren sie dabei die Strasse mit Bauschutt zu blockieren, den wir erst zur Seite räumen mussten.

Was war passiert? Gegen Mittag war die Nachricht, dass die verfassungsgebende Versammlung ("Asamblea") die Verfassung im grossen angenommen hätte, zu den Studenten durchgesickert. Da ergriff die Sucrenser Politikjugend Torschlusspanik: schliesslich war noch immer nicht über die Hauptstadtfrage diskutiert worden und überhaupt war diese Versammlung der Asamblea (wie auch sonst so einiges im Prozess der neuen Verfassung) nicht ganz sauber. Stattgefunden hatte sie nämlich in einem Militärqartier ausserhalb der Stadt, geschützt von einem massiven Polizei- und Militäraufgebot, sowie von drei Ringen Bauern aus La Paz, die der gute Evo Morales - oder einer seiner Komparsen - mit Bussen herangeführt (und wohl auch bezahlt) hatte. Zudem wurde die Opposition gar nicht erst reingelassen, auch wenn die regierende MAS-Partei (Movimiento al Socialismo) alleine sowieso schon fast die Hälfte der Asambleistas stellt.
Zeitgleich allerdings beschloss die Volksversammlung Sucres den zivilen Ungehorsam, das heisst die nicht-Akezeptanz der neuen Verfassung, auch wenn deren genauer Text bis heute nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist - die Annahme der Verfassung für Sucre also bedeutungslos war. Aber da waren die Studenten schon auf der Strasse und es begann das alte Spiel von Tränengas und Gummischrot auf der einen, Steinen und brennenden Reifen auf der anderen Seite. Diesmal allerdings in ungeahnter Heftigkeit.
Am Donnerstagabend hatten die Ponchos Rojos nahe La Paz auf brutalste Art als Warnung an die Präfekten und zur Verteidigung der Asamblea zwei Hunde erhängt und geköpft, die Bilder jener Gräueltat beruhigten die angeheizte Stimmung keineswegs.


Samstag, 24. November: Die Misshandlungen der Polizisten gegenüber den Studenten riefen auch die nach draussen, die den ersten Rufen nicht gefolgt waren: weitere Studenten, aber auch deren Mütter, Väter und Grosseltern. Ein Teil des Mobs verlagerte sich vom Stadtzentrum ins Viertel "El Tejar", nahe des erwähnten Militärquartiers gelegen (aus welchem Übrigens in der Morgendämmerung die Asambleistas evakuiert wurden - durch ein Flussbett hindurch und unter massivstem Polizeischutz).

Bis zum Abend waren zwei Todesopfer auf der Studentenseite zu beklagen, ein junger Anwalt und ein Wirtschaftsstudent, getötet durch sogenannt scharfe Munition - obwohl die Polizisten anscheinend nur Gummischrot verwendeten... Dazu kamen die weit über 100 zum Teil schwer Verletzten und all diejenigen mit Vergiftungserscheinungen durch das grosszügig und rücksichtslos eingesetzte Tränengas. Ausserdem kursierte die Nachricht über den Tod eines Polizisten, von dem aber komischerweise keine Leiche zu finden war - heute vermuten die Leute, dass es ein Venezolaner war, der ausser Landes gebracht wurde, lebendig allerdings.
Mit dem absoluten Frieden in unserer Gegend war es dann auch vorbei, da das Studio vom Unifernsehen, welches natürlich alles (und nicht gerade neutral!) zeigte und kommentierte. Um die Polizisten an der Schliessung zu hindern, zogen die Leute los - auch hier: Tränengas und brennende Reifen.

Sonntag, 25. November: Am Vormittag wurden aus strategischen Gründen welcher Art auch immer sämtliche Polizeikräfte aus Sucre abgezogen.

Im Gefängnis San Roque kam es zu einem Massenausbruch von 160 Häftlingen und der weitgehenden Zerstörung des Gebäudes. Dachte man zuerst, die Studenten hätten den Kriminellen zur Flucht verholfen, ist heute die Rede davon, die abziehenden Polizisten hätten dieselbigen freigelassen um der Bevölkerung zu schaden. (Arbeitsbeschaffung einmal anders)
Die ausser Rand und Band geratenen Studenten sahen sich ihres Gegners beraubt und begannen damit, Gebäude (Polizeiquartiere) und Autos anzuzünden. In den Quartieren wurden Bürgerwehren organisiert, Jugendliche mit Mofas und Handies rekrutiert, Notrufnummern eingerichtet und auch die privaten Sicherheitsdienste wurden in den Plan miteinbezogen.

Anarchie?
Montag, 26. November: Keineswegs, alles soweit friedlich. Wir Sucrenser brauchen doch keine Polizeigewalt um Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, ganz im Gegenteil... Am Morgen war ein weitere Student seinen Verletzungen erlegen.
Am Nachmittag dann die Beerdigung der beiden ersten getöteten jungen Männer. Von der Plaza aus bewegte sich der Umzug hoch zum Friedhof. Ein Blick zurück: ein Menschenmeer, zehn Blocks lang, darin Blumenkränze, die bolivianische Trikolore und die Flagge Chuquisacas mit schwarzem Trauerflor; lauthals skandierend "Evo asesino, fuera de Bolivia" [Evo Morales, Präsident von Bolivien], "Silvia criminal" [Silvia Lazarte, Präsidentin der verfassungsgebenden Versammlung] und "Linera terrorista" [Linera, Vize-Präsident Boliviens]. Ausserdem "Fusil, metralla, Sucre no se calla!" [Gewehr, MG, Sucre schweigt nicht!]


Die Polizisten kehrten nicht zurück, dafür trudelte ein Teil der entlaufenen Häftlinge wieder ein und die Leute brachten teilweise das zurück, was sie aus dem Gefängnis geplündert hatten :) Es gab keinerlei Anzeichen von Plünderungen, Gewaltakten oder anarchieähnlichen Zuständen.

Erst am Donnerstag trauten sich die Polizisten wieder nach Sucre, wo sie momentan in einer Turnhalle residieren, in Ermangelung ihrer, den Brandstiftungen zum Opfer gefallenen, Quartiere. Die vier Tage ohne Polizei vergingen ohne grössere Zwischenfälle, abgesehen von den Schüssen auf Geldautomaten und einigen Autodiebstählen (als ob es die sonst nicht auch gäbe). Endlich sind nun also auch die Banken wieder offen und die olivgrünen Männer stehen wieder winkend auf den grösseren Strassenkreuzungen.

Für eine neutrale Sicht von aussen auf die Geschehnisse bitte hier klicken.

**************************************************************

Für alle die, die schon immer gerne einen Kommentar hinterlassen wollten, es aber aus unerfindlichen Gründen nicht fertigbrachten, hier eine Anleitung in 6 Schritten:
  1. Blog fertig lesen
  2. Auf "0 (beliebige Zahl) Kommentare" klicken
  3. Kommentar schreiben
  4. Als Identität "sonstige" auswählen
  5. Namen ins Feld schreiben
  6. Veröffentlichen
Danke!

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hallihallo!

Jaja, z'Bolivie isch öpis los... du erläbsch da ja Sache! Aber hie louft ja jetzt o öpis, Blocher raus, Schlumpf rein, alles wiiteri da: http://tagesschau.sf.tv/wahlen07/

Wünsche dr ä schöni Wiehnachtsziit z'Bolivie
Mfulg Jeannette