Donnerstag, 20. Dezember 2007

Vida cotidiana (Teil V)

Was macht denn die Xenia den ganzen Tag?
Villa Armonía ist eines der ärmsten Viertel in der Hauptstadt des ärmsten Departements des ärmsten Landes Südamerikas. Wer jetzt aber vor seinem geistigen Auge Bilder brasilianischer Favelas aufziehen sieht, liegt glücklicherweise falsch. Fenster oder Türen mögen zwar (teilweise) fehlen, aber die Häuser sind dennoch als einigermassen intakte und überdachte Lehmbauten zu bezeichnen. Halb nackt rennen die Kinder (temperaturbedingt) auch nicht herum, mögen ihre Kleider auch noch so oft geflickt (und unverständlich: schmutzig) sein.
Die Menschen die in Vila Armonía leben sind häufig vor nicht allzu langer Zeit vom Land in die Stadt gezogen, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Für die Eltern wird es das wohl auch bleiben: nicht viel mehr als ein Traum, während sie sich ihren lebensunterhalt als Marktverkäuferinnen, Busfahrer, Köchinnen oder Gärtner verdienen.
Dafür dass zumindest ihre Kinder dereinst bessere Chancen haben, und niemand schlechter lebt als zuvor auf dem Land, dafür setzt sich mein Projekt ein. Dazu gehören eine Kinderkrippe, eine Schule, ein Kindergarten, eine Apotheke, ein Arzt, eine Zahnärztin, Lehrwerkstätten für Bäckerei, Schreinerei, Schneiderei und und das Coiffeurhandwerk und ein Schülermittagstisch, in dem ich arbeite.
Meine Arbeit besteht normalerweise darin vormittags ab neun Uhr den Kindern bei ihren Hausaufgaben zu helfen - die sie sonst wohl kaum erledigen würden - und für eine gewisse Ruhe im Saal zu sorgen. So um halb zwölf werden sie dann rausgeschickt und ich beginne mit den Vorbereitungen fürs Mittagessen und das anschliessende Abwaschen. Im Mittagstisch bekommen an die hundert Kinder fünfmal die Woche eine warme Mahlzeit und ein kleines Dessert. Dafür bezahlen sie im Monat gerade mal 30 Bolivianos (5 Franken), manche entsprechend der finanziellen Situation ihrer Eltern auch gar nichts.
Seit Anfang Dezember sind Schulferien, so dass wir einige Ausflüge unternommen haben und Englisch- bzw. Computerunterricht angeboten haben. Im Projekt arbeiten neben mir noch drei andere Freiwillige: zwei deutsche Zivildienstleistende und Anne, auch aus Deutschland, die in der Kinderkrippe die 1-2-jährigen betreut.
Seit Montag ist der Mittagstisch endgültig zu, so dass ich nun auf diversen Weihnachtsmärkten Güetzi und "Panetón Alemán" (sollte wohl Christstollen darstellen) des Bäckereiworkshops verkaufe.

Oh du fröhliche, oh du seelige...
Das ganze Weihnachtsbrimborium findet hier glücklicherweise in äusserst gemässigter Form statt. Auch von konstanter Weihnachtsmusikberieselung keine Spur - oder ich erkenne die Stücke einfach nicht als Weihnachtslieder. Dadurch ist es aber unerwartet schwierig in Weihnachtsstimmung zu kommen: auch weil die Temperaturen trotz Kälteeinbruch im zweistelligen Plusbereich liegen. Erst in den letzten Tagen sieht man vermehrt Weihnachtsschmuck, Weihnachtsmärkte, Weihnachtsangebote, etc. auftauchen.

Reise, Reise
Eigentlich hatte ich ja vor, erst Mitte Januar einen Teil meiner Reisezeit zu beziehen. Aus Gründen jenseits meiner Macht, und weil mein Arbeitsort auch gerade Ferien macht, werde ich nun aber schon nach Weihnachten damit beginnen Bolivien zu erkunden. Zusammen mit meiner Gastschwester reise ich zuerst für +/- eine Woche nach Santa Cruz, in den tropischen Teil des Landes. Wenn alles nach Plan läuft, werde ich dort einige ex-Jesuitenmissionen im Dschungel und die rätselhaften Ruinen von Samaipata besuchen.
Aus der Hitze dann ab in die Kälte: nach Uyuni zum grössten Salzsee der Welt, der sich dank Metallen nicht nur schneeweiss, sondern auch rostrot, grasgrün und meerblau zeigt.
Bilder und Berichte folgen im neuen Jahr!


E schöni Wiehnachtszyt, frohi Wiehnachte und e ganz e guete Rutsch ids nöie Jahr wünschi allne wo das hie läse :)

Sonntag, 2. Dezember 2007

Ciudad blanca negra

Es gibt Dinge, die muss man einfach chronologisch erzählen, um wenigstens einen Hauch von Ordnung in sich überstürzende Ereignisse zu bringen zu versuchen. Hier also mein Bericht Über die schweren Auseinandersetzungen zwischen Polizei und Studenten letzte Woche - und deren Folgen und Nachwehen.

Freitag, 23. November: Ein strahlend schöner Morgen und alles friedlich in meinem neuen Projekt in Villa Armonia. Doch der Frieden täuschte, und in gleichem Masse wie Wolken den Himmel bedeckten um sich schliesslich tiefschwarz zu einem Gewitter zusammen zu brauen, eskalierte im Zentrum Sucres die Situation.

Bereits am Vortag waren Gerüchte über die Ankunft von hordenweise Bauern aus La Paz, die Schliessung des Marktes und die Kappung der Wasserversorgung zirkuliert. Alles blieb aber zunächst friedlich, und nun also der Sturm nach der Ruhe. Knapp schaffte ich es nach Hause zu kommen: wegen einer sich formierenden Demonstration konnte mein Bus nicht seine übliche Route fahren, ich hatte folglich keine Gelegenheit in meinen Anschluss-Micro umzusteigen und fuhr Richtung Zentrum. Es gelang mir dann die Linie zu erwischen die mich nach Hause bringen sollte, zuerst aber hoch Richtung Friedhof fuhr. An den Strassenenden links und rechts brennende Reifen und schliesslich eine Ladung Tränengas (eklig das Zeug). Der Fahrer sah ein, dass es so nicht mehr ging und kehrte um. Gerade noch schafften wir es raus aus dem Zeug, denn schon waren sie dabei die Strasse mit Bauschutt zu blockieren, den wir erst zur Seite räumen mussten.

Was war passiert? Gegen Mittag war die Nachricht, dass die verfassungsgebende Versammlung ("Asamblea") die Verfassung im grossen angenommen hätte, zu den Studenten durchgesickert. Da ergriff die Sucrenser Politikjugend Torschlusspanik: schliesslich war noch immer nicht über die Hauptstadtfrage diskutiert worden und überhaupt war diese Versammlung der Asamblea (wie auch sonst so einiges im Prozess der neuen Verfassung) nicht ganz sauber. Stattgefunden hatte sie nämlich in einem Militärqartier ausserhalb der Stadt, geschützt von einem massiven Polizei- und Militäraufgebot, sowie von drei Ringen Bauern aus La Paz, die der gute Evo Morales - oder einer seiner Komparsen - mit Bussen herangeführt (und wohl auch bezahlt) hatte. Zudem wurde die Opposition gar nicht erst reingelassen, auch wenn die regierende MAS-Partei (Movimiento al Socialismo) alleine sowieso schon fast die Hälfte der Asambleistas stellt.
Zeitgleich allerdings beschloss die Volksversammlung Sucres den zivilen Ungehorsam, das heisst die nicht-Akezeptanz der neuen Verfassung, auch wenn deren genauer Text bis heute nicht an die Öffentlichkeit gelangt ist - die Annahme der Verfassung für Sucre also bedeutungslos war. Aber da waren die Studenten schon auf der Strasse und es begann das alte Spiel von Tränengas und Gummischrot auf der einen, Steinen und brennenden Reifen auf der anderen Seite. Diesmal allerdings in ungeahnter Heftigkeit.
Am Donnerstagabend hatten die Ponchos Rojos nahe La Paz auf brutalste Art als Warnung an die Präfekten und zur Verteidigung der Asamblea zwei Hunde erhängt und geköpft, die Bilder jener Gräueltat beruhigten die angeheizte Stimmung keineswegs.


Samstag, 24. November: Die Misshandlungen der Polizisten gegenüber den Studenten riefen auch die nach draussen, die den ersten Rufen nicht gefolgt waren: weitere Studenten, aber auch deren Mütter, Väter und Grosseltern. Ein Teil des Mobs verlagerte sich vom Stadtzentrum ins Viertel "El Tejar", nahe des erwähnten Militärquartiers gelegen (aus welchem Übrigens in der Morgendämmerung die Asambleistas evakuiert wurden - durch ein Flussbett hindurch und unter massivstem Polizeischutz).

Bis zum Abend waren zwei Todesopfer auf der Studentenseite zu beklagen, ein junger Anwalt und ein Wirtschaftsstudent, getötet durch sogenannt scharfe Munition - obwohl die Polizisten anscheinend nur Gummischrot verwendeten... Dazu kamen die weit über 100 zum Teil schwer Verletzten und all diejenigen mit Vergiftungserscheinungen durch das grosszügig und rücksichtslos eingesetzte Tränengas. Ausserdem kursierte die Nachricht über den Tod eines Polizisten, von dem aber komischerweise keine Leiche zu finden war - heute vermuten die Leute, dass es ein Venezolaner war, der ausser Landes gebracht wurde, lebendig allerdings.
Mit dem absoluten Frieden in unserer Gegend war es dann auch vorbei, da das Studio vom Unifernsehen, welches natürlich alles (und nicht gerade neutral!) zeigte und kommentierte. Um die Polizisten an der Schliessung zu hindern, zogen die Leute los - auch hier: Tränengas und brennende Reifen.

Sonntag, 25. November: Am Vormittag wurden aus strategischen Gründen welcher Art auch immer sämtliche Polizeikräfte aus Sucre abgezogen.

Im Gefängnis San Roque kam es zu einem Massenausbruch von 160 Häftlingen und der weitgehenden Zerstörung des Gebäudes. Dachte man zuerst, die Studenten hätten den Kriminellen zur Flucht verholfen, ist heute die Rede davon, die abziehenden Polizisten hätten dieselbigen freigelassen um der Bevölkerung zu schaden. (Arbeitsbeschaffung einmal anders)
Die ausser Rand und Band geratenen Studenten sahen sich ihres Gegners beraubt und begannen damit, Gebäude (Polizeiquartiere) und Autos anzuzünden. In den Quartieren wurden Bürgerwehren organisiert, Jugendliche mit Mofas und Handies rekrutiert, Notrufnummern eingerichtet und auch die privaten Sicherheitsdienste wurden in den Plan miteinbezogen.

Anarchie?
Montag, 26. November: Keineswegs, alles soweit friedlich. Wir Sucrenser brauchen doch keine Polizeigewalt um Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, ganz im Gegenteil... Am Morgen war ein weitere Student seinen Verletzungen erlegen.
Am Nachmittag dann die Beerdigung der beiden ersten getöteten jungen Männer. Von der Plaza aus bewegte sich der Umzug hoch zum Friedhof. Ein Blick zurück: ein Menschenmeer, zehn Blocks lang, darin Blumenkränze, die bolivianische Trikolore und die Flagge Chuquisacas mit schwarzem Trauerflor; lauthals skandierend "Evo asesino, fuera de Bolivia" [Evo Morales, Präsident von Bolivien], "Silvia criminal" [Silvia Lazarte, Präsidentin der verfassungsgebenden Versammlung] und "Linera terrorista" [Linera, Vize-Präsident Boliviens]. Ausserdem "Fusil, metralla, Sucre no se calla!" [Gewehr, MG, Sucre schweigt nicht!]


Die Polizisten kehrten nicht zurück, dafür trudelte ein Teil der entlaufenen Häftlinge wieder ein und die Leute brachten teilweise das zurück, was sie aus dem Gefängnis geplündert hatten :) Es gab keinerlei Anzeichen von Plünderungen, Gewaltakten oder anarchieähnlichen Zuständen.

Erst am Donnerstag trauten sich die Polizisten wieder nach Sucre, wo sie momentan in einer Turnhalle residieren, in Ermangelung ihrer, den Brandstiftungen zum Opfer gefallenen, Quartiere. Die vier Tage ohne Polizei vergingen ohne grössere Zwischenfälle, abgesehen von den Schüssen auf Geldautomaten und einigen Autodiebstählen (als ob es die sonst nicht auch gäbe). Endlich sind nun also auch die Banken wieder offen und die olivgrünen Männer stehen wieder winkend auf den grösseren Strassenkreuzungen.

Für eine neutrale Sicht von aussen auf die Geschehnisse bitte hier klicken.

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